28 Januar 2006

Muß dass sein?

In Schulen und Behörden von 14 Bundesländern gelten ab heute neue Rechtschreibregeln. Was bleibt von der Reform? Von Reinhard Markner

Junge Welt, 1. 8. 2005

»Wenn Bild nicht mitmacht, haben wir keine Chance«, gestand Gerhard Augst dem Spiegel. »Wir«, das sind die Rechtschreibreformer. Augst, emeritierter Sprachwissenschaftler an der Universität Siegen, war lange Zeit ihr Anführer.

Bild macht nicht mehr mit. Trotzdem ist die Reform nicht chancenlos. Viele Menschen schreiben, weil es von ihnen erwartet wird, »dass«. Als Faustregel gilt: Reformiert schreibt, wer »dass« schreibt. Gelänge es den Reformern und ihren Verbündeten in den Ministerien, die partielle Ersetzung des »ß« durch »ss« zur allgemein akzeptierten Norm zu machen, hätten sie ihr einzig verbliebenes Ziel erreicht.

Rechtschreibreformen zielen gewöhnlich nur auf die Anpassung der Schreibung an die Lautung. Die deutsche Rechtschreibung ist recht lautgetreu. Ihre Gegner aber wollten eine noch »flachere« Schreibung, wie sie z. B. das Finnische hat. Mehrere Anläufe in diese Richtung scheiterten, u. a. 1944 und 1954.

Von den weitreichenden Ambitionen früherer Reformergenerationen (»fi« statt »Vieh«) rückte die seit den 70er Jahren aktive Gruppe um Augst schrittweise ab. Sie verlegte sich darauf, den zuständigen Beamten eine unüberschaubare Zahl kleinerer Modifikationen (»Föhn« statt »Fön«) einzureden, mit dem Hinweis, dieses Vorgehen sei behutsam und unbedingt notwendig. Augst selbst entdeckte immer neue alte Wörter, deren Gestalt dringend per Erlaß zu ändern seien: Château, Frevel, Kolophonium, verbleuen.

In einigen Fällen drang er mit seinen Eingaben durch. Aber »Chateau, Frefel, Kolofonium, verbläuen« und andere Raritäten dieser Art wären von Bertelsmann kaum als »neue Rechtschreibung« zu vermarkten gewesen. Zum Glück hatte man noch das »dass«.

Die neue »ss«/»ß«-Schreibung steigert die Lauttreue. Neu ist sie allerdings nicht; die zugehörigen Regeln wurden in den 1820er Jahren entwickelt. Der Grammatiker August Heyse (1764–1829) argumentierte, die Verwendung des »ß« am Silbenende sei »mißbräuchlich«. Dabei bezog er sich in erster Linie noch auf den Schreibgebrauch in den gebrochenen Schriften (gebrochen sind die Bögen – d. Red.). Für den Fraktursatz seiner Grammatik ließ Heyse ein eigenes Zeichen gießen, eine Ligatur (Buchstabenverbindung) aus langem und rundem »s«. Dieses Zeichen übernahm die wichtigste Funktion des »ß«, die Bezeichnung des Silbenschlusses. Es kam in Wörtern wie »Haß« zur Anwendung. Mit zwei langen »s« ersetzte Heyse das »ß« vor »t« (»hasst« statt »haßt«).

In der Antiqua (hier sind die Bögen rund – d. Red.) ist das lange »s« schon lange ungebräuchlich. Es überlebt nur im »ß«, das anders gebildet ist als das Fraktur-»ß«. Letzteres ist aus einem langen »s« und einem epigraphischen Kürzel entstanden. Das Antiqua-«ß« hingegen ist eine Verbindung aus langem und rundem »s«, ganz wie das von Heyse entworfene Zeichen.

Ein Verzicht auf diese Ligatur hat Leseerschwernisse zur Folge, weil die Wortfugen verschleiert werden: »bisschen«, »Flussaue«, »Messergebnis«. Ferner kommt es zu ästhetisch unbefriedigenden, mühsam lesbaren Wortgebilden mit dreifachem »s«: »Missstand«, »Schlusssatz«.

Diese Mängel der Heyseschen Schreibung sind nicht unbedeutend. Im Vergleich mit den eklatantesten Mißgriffen der Reformer, insbesondere der forcierten Getrenntschreibung und den grammatisch falschen Großschreibungen, jedoch sind sie nachrangig. Daher hat sich die Kritik an der Reform nicht auf die »ss«/»ß«-Schreibung konzentriert.

Die Heysesche Regel ist Erwachsenen relativ leicht zu vermitteln. Dennoch beobachtet man eine hohe Fehlerquote: »Grüsse«, »Heissluft«, »Strasse«. Offensichtlich verstehen viele nicht, wann das »ß« bleiben soll. Es fällt ihnen schwer, die Vokallänge zu messen, zumal diese regional schwankend ist. Vor Übergeneralisierungen warnt der aktuelle Duden bereits ausdrücklich: »Feminine Substantive auf -nis werden im Singular mit nur einem -s geschrieben«, heißt es in einem »Infokasten« unter dem Lemma »Kenntnis«.

Für Schüler, aber auch für schreibunsichere Erwachsene ist die grammatische Unterscheidung zwischen »daß« und »das« die größte orthographische Schwierigkeit. Durch die Ersetzung von »daß« durch »dass« kann sich daran nichts ändern. Im Gegenteil. In einem Interview mit dem Leipziger Erziehungswissenschaftler Professor Harald Marx, das die Neue Osnabrücker Zeitung vor knapp einem Jahr veröffentlichte, hieß es: »Also mich ärgert es schon, wenn die Kultusminister sagen, das (!) jetzt an den Schulen besser rechtgeschrieben wird.« Die Verwechslung von »das« mit »dass« und umgekehrt ist optisch unauffälliger als die von »das« mit »daß«. Sie begegnet uns jetzt häufiger als je zuvor.

Marx ist der einzige Wissenschaftler, der seriöse Studien zu den Rechtschreibleistungen der Schüler vor und nach der Reform angestellt hat. Dabei konzentrierte er sich von Anfang an auf die »ss«/»ß«-Schreibung. 1998 stellte er fest, daß mehr Fehler gemacht wurden als 1996. Später ging ihre Zahl wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück. Die Neigung zu Übergeneralisierungen wuchs hingegen stetig: »Das heißt, Wörter, die in der s-Laut-Schreibung von der Rechtschreibreform nicht betroffen waren, wurden jetzt häufiger als vor der Reform falsch geschrieben . . . Es gibt seit der Reform fast keine Examensarbeit meiner Lehramts- und Magisterstudenten, in der das ›ss‹ oder ›ß‹ nicht wenigstens einmal falsch geschrieben ist«, resümierte Marx in dem oben angeführten Interview.

Der Rückgriff auf die Heysesche »ss«/»ß«-Regel hat die Orthographie nicht vereinfacht, aber sichtbar verändert. Das ist entscheidend. Auch wenn es nur bei diesem einen Eingriff bliebe, hätten die Reformer ihr letztes Ziel erreicht: die Möglichkeit einer staatlich organisierten Veränderung der deutschen Sprache überhaupt vorgeführt zu haben.

Gymnasium und Geschäft

Ärger mit der Behörde: Zum 125. Geburtstag des Rechtschreib-Duden

Junge Welt, 8. 7. 2005

Als der Hersfelder Gymnasialdirektor Konrad Duden im Juli vor genau 125 Jahren sein »Vollständiges Orthographisches Wörterbuch« dem geneigten Publikum vorstellte, bürgte er dafür, daß es »ein zuverlässiges Hilfsmittel zur Ermittelung der der amtlich aufgestellten Norm entsprechenden Schreibung« darstelle. Die strikte Orientierung an den behördlichen Vorgaben war der Schlüssel zum durchschlagenden Erfolg seines Werks. Für Dudens Nachfolger ist sie zum Problem in Permanenz geworden.

Sowohl der Leipziger als auch der Mannheimer Duden hatten in der Nachkriegszeit eine je privilegierte Stellung inne. Nicht die amtliche Regelung von 1901, das Grundgesetz der Einheitsrechtschreibung, galt als »maßgeblich in allen Zweifelsfällen«, sondern der Duden. Diesen Zustand zu beenden bedurfte es dringend einer Rechtschreibreform. »Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen«, gab ein österreichischer Reformer 1998 in einem ungeschützten Moment zu. Kaum war der VEB Bibliographisches Institut an den Mannheimer Betrieb verramscht, mußte die deutsche Rechtschreibung von neuem verstaatlicht werden, um der Duden-Konkurrenz bessere Möglichkeiten am Wörterbuchmarkt zu verschaffen.

Eine »Chance, endlich auf dem Markt der deutschen Wörterbücher Fuß zu fassen«, nannte es 1998 ein Mitglied der Verlagsleitung des Bertelsmann-Lexikon-Verlags. Das absehbar gute Geschäft brummte vernehmlich – zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwei Millionen Bertelsmann-Rechtschreibwörterbücher (allerdings nur zum halben Preis des Dudens) verkauft. Der Mutterkonzern Bertelsmann AG, der von 1988 bis 1993 keine deklarierungspflichtigen Parteispenden geleistet hatte, bedachte 1994 und 1995 CDU und FDP mit insgesamt 211 000 DM. Es bestand sicherlich kein Zusammenhang mit der politischen Vorbereitung der Rechtschreibreform.

Daß die Reform gegen den Duden gerichtet war, gab man dessen damaligem Chefredakteur Günther Drosdowski auch ganz persönlich zu spüren. In einem Brief an den schwedischen Germanisten Gustav Korlén erinnerte er sich 1997, wie man ihn »mit allen nur erdenklichen Mitteln und Tricks ... zu isolieren und von der Mitarbeit auszuschließen« trachtete. Seine »Stellungnahmen und Listen mit Korrekturen« verschwanden, ohne den Adressaten zugestellt worden zu sein. Sitzungstermine wurden verschoben, ohne daß Drosdowski davon erfuhr. In einem anderen Brief sprach er von »mafiaähnlichen Methoden« der Reformer und davon, daß sie »von der Verschriftung der Sprache und der Funktion der Rechtschreibung für die Sprachgemeinschaft keine Ahnung« hätten. In der Öffentlichkeit verteidigte er dieweil ihr Werk.

Gravierender noch als diese Konflikte war es, daß man in Mannheim nicht rechtzeitig erkannte, daß der damalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair entschlossen war, noch im letzten Moment einige Änderungen am Regelwerk durchzusetzen. Eine hohe Auflage bereits gedruckter Duden mußte eingestampft werden. »Haben sich die Herren eben verkalkuliert«, kommentierte der Minister. Zum Glück für den windgebeutelten Verlag blieb wenigstens der Versuch eines besonders eifrigen Reformers, dem Duden die Zulassung an den deutschen Schulen entziehen zu lassen, ohne Erfolg.

Allen Widrigkeiten zum Trotz ist der gelbe Klotz längst wieder souveräner Marktführer, und zum Konzerngewinn der Gruppe Langenscheidt-Brockhaus-Duden trägt er allein ein sattes Viertel bei. Währenddessen wird der für August, gleichzeitig mit der teilweise vorläufig endgültigen Inkraftsetzung der Reform, angekündigte neue Wahrig nicht eben mit Spannung erwartet. Einen dtv-Wahrig von 2002 kann man über Amazon gar schon für einen Cent erstehen, zuzüglich Versandkosten. Das darf niemanden überraschen und sollte auch niemanden zum Kauf verleiten. Denn seit 1996 gilt: Nichts ist älter als die neue Rechtschreibung von gestern.

Violinen im Pentagon

Der Engel der Geschichte ist eine bleierne B-52. Laurie Anderson spielte in Berlin. Von Reinhard Markner

Junge Welt, 20. 10. 2001

Vor bald zehn Jahren versuchte sich Laurie Anderson im Hebbel-Theater zu Berlin an einer nachträglichen Deutung dessen, was in postmodernistischen Kreisen als größtes Simulacrum aller Zeiten gehandelt und im gemeinen Sprachgebrauch etwas ungenau als »Golfkrieg« bezeichnet wird. Ihre Geschichten erzählte sie, als halte sie eine Pressekonferenz im Pentagon, vor Projektionen der von kamerabewehrten Geschossen gelieferten Videos. Die Performance geriet zur Gegendarstellung.

Avantgarde ist ein militärischer Begriff. Die Feuilletons bezeugen, daß es vielen Künstlern momentan schwerfällt, mit der Entwicklung Schritt zu halten. In welche Richtung verläuft sie überhaupt? Erstaunt sieht man Flugzeuge zum Einsatz kommen, die schon über Vietnam flogen. Der Beginn der Kampfhandlungen in Afghanistan wird durch flimmernde Bilder annonciert, die an die grünblinkenden Rechnermonitore einer längst vergangenen Ära erinnern. Laurie Anderson widmet ihren Auftritt im Konzertsaal der Berliner Hochschule der Künste – gegenüber dem mehr denn je verschanzten Amerikahaus in der Hardenbergstraße – zunächst einmal nur der Gelegenheit, das Zeitgeschehen beobachten zu können. Interpretation folgt.

New York, so berichtet sie, sei dieser Tage wirrer und unübersichtlicher denn je. Neue politische Gruppierungen formierten sich und suchten Antworten auf die aktuellen Fragen. Die Stadt sehe jedenfalls nicht so aus wie im Fernsehen. Hat sie das je getan – und wenn ja, welches Programm hätte man anschalten sollen?

Das Berliner Konzert wird denn auch mit »Statue of Liberty« eröffnet, dem eindringlichsten Stück des neuen Albums »Life on a String«. Es klingt so schwermütig, als wäre es erst neulich auf der Überfahrt von Staten Island nach Manhattan entstanden. Operation »Enduring Freedom« – mißgünstig übersetzt heißt das »Freiheit erleiden«. Angesichts des Vorpostens der beschädigten Skyline bemerkt Anderson: »Freedom is a scary thing«. Dann korrigiert sie ihren Text. Statt »Not many people really want it« folgt ein unverbindliches »So prescious, so easy to lose«.

Wenige im Saal werden das gemerkt haben, nicht nur, weil die neuen Songs noch unvertraut sind, sondern auch, weil Jim Blocks Percussion zu Beginn Andersons sanft verhauchenden Singsang beständig zu übertönen droht. Diese Vehemenz, die einem älteren Stück wie »The Puppet Motel« durchaus guttut, kommt ganz unerwartet, ist doch »Life on a String« eine Sammlung sehr leiser Stücke, dem Titel gemäße Kammermusik. Zwar hat sich Laurie Anderson immer schon einer Violine bedient – früher allerdings nur in den seltensten Fällen, um Geige zu spielen. Meist brachten die Saiten des verkabelten Instruments statt dessen jene Laute hervor, welche die Künstlerin von Ausflügen in fremde Geräuschlandschaften mit nach Hause gebracht hatte. Diesmal führt sie den Bogen, und siehe da, man hört tatsächlich Streichmusik. Noch auffälliger ist der Verzicht auf eine Bebilderung der Töne.

Anderson läßt an diesem Abend viele Songs, die sie nach eigenem Bekunden lange nicht gespielt hat, Revue passieren. Auf den schrägen Klassiker »Sweater« folgt das neue Stück »Lucky Day« – auf die schrille Verweigerung »I no longer love your eyes, your mouth, the way you hold your pen and pencil...« das schmeichelhafte Bekenntnis »I love your brain«. Ihre Fans, eine bemerkenswert heterogene Versammlung, begeistert Anderson mit der minimalistischen Ode »Oh Superman« und einer deutschen Version von »The Dream Before«. Walter Benjamins Text, verfremdet aus dem Englischen zurückübersetzt, handelt vom Engel der Geschichte, der, den Blick auf das Trümmerfeld der Vergangenheit gerichtet, rückwärts gewandt der Zukunft entgegenfliegt. Wahrscheinlich muß auch Laurie Anderson, die von New Yorks Galerienszene nie ganz in die Welt des Pop übergewechselt ist, dabei an Anselm Kiefers Interpretation denken, der den Engel der Geschichte als bleierne B-52 dargestellt hat.

Große Denker

Echte Werte und virtueller Journalismus. Von Reinhard Markner

Junge Welt, 16. 3. 2005

Auch Alphaville hat seine Zeitungen. Nicht jene von Godard einst ersonnene Stadt, in der das Wort Liebe unbekannt ist, sondern die größte Siedlung in der virtuellen Welt der »Sims«. Natürlich erscheinen diese Blätter nicht in gedruckter Form, sondern als interaktive »Blogs«. Sie fassen für die ungefähr 80000 Mitspieler an den Rechnern in aller Welt das Neueste vom Tage zusammen.

Je ausgefeilter die virtuelle Gesellschaft, desto realer ist ihre Scheinrealität. Die Sims lebten ursprünglich in einer heilen Vorstadtwelt, wie sie so wohl nur Amerikaner programmieren konnten, und ihr Bewegungsspielraum war beschränkt: Die Grenzen ihrer Welt waren die Grenzen einer Festplatte. Seit das Spiel vor einigen Jahren online gegangen ist, ist das simulierte Leben weitläufiger, bunter, aber auch greller geworden. Manche Mitspieler machen sich einen Spaß daraus, im Puppenheim Schlagzeilenträchtiges zu inszenieren, und sie fanden Reporter, die ihr Treiben verfolgten. Insbesondere der Alphaville Herald hat ausführlich über Straßenräuber und Bordellmütter berichtet und sich damit einen gewissen Namen gemacht, bis sein Herausgeber, Peter Ludlow, von den Verantwortlichen der Firma Electronic Arts als Mitspieler gesperrt wurde.

Sein Fall fand Beachtung auch in der herkömmlichen Wirklichkeit. Es stellte sich die Frage, ob dem »Hausrecht« einer Softwarefirma Vorrang vor der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit zukomme. Im Rahmen des Spiels, so argumentierten Ludlows Verteidiger, sei ein öffentlicher Raum entstanden, den unbeschränkt zu kontrollieren seine privaten Betreiber nicht befugt seien. Ein Sprecher von Electronic Arts hielt dem entgegen, Ludlow sei so wenig Zeitungsherausgeber wie ein Monopoly-Spieler Immobilienhai.

Mit noch etwas mehr Ernst wird in den USA die Diskussion um die Beobachtungen eines kalifornischen Wirtschaftswissenschaftlers geführt. Edward Castronova studiert die Ökonomie der Simulationsspiele im Hinblick auf ihre Interaktion mit der realen Wirtschaft. Die im Spiel hergestellten oder erworbenen Güter, zum Beispiel die Pfründe der mittelalterlichen Welt »Everquest«, werden nämlich längst bei Ebay für echtes Geld gehandelt. Die Bietenden wollen Abkürzungen nehmen, in der gesellschaftlichen Hierarchie der Gegenwelt schneller aufsteigen und sich auf diese Weise mühevolle Arbeit am Bildschirm ersparen. Indem solche Vorteile handelsfähig werden, schaffen die Spieler »echte« Werte. Auf Grundlage der Auktionszuschläge hat Castronova sogar Wechselkurse zwischen Spielgeld und US-Dollar errechnen können.

Dieses Thema hat jüngst der deutsche Wirtschaftsjournalist Sönke Iwersen in einem Porträt Castronovas aufgegriffen, das vom Hamburger Abendblatt und der Bonner Wochenzeitung Rheinischer Merkur gedruckt wurde. Eine interessante Geschichte und ein gut geschriebener Text. Einziges Problem: Er war letzten Mai, noch ausführlicher, bereits in Walrus erschienen, einer ebenso jungen wie beachtlichen kanadischen Zeitschrift. »Edward Castronova had hit bottom. Three years ago, the thirty-eight-year-old economist was, by his own account, an academic failure«: so fängt Clive Thompsons Reportage an. »Edward Castronova war verzweifelt. Jahrelang hatte der amerikanische Volkswirtschaftler davon geträumt, eines Tages zu den großen Denkern seines Fachs zu gehören. Doch jetzt, mit 38, fiel seine wissenschaftliche Bilanz reichlich mager aus«: so liest sich das bei Iwersen, und in der gleichen paraphrasierenden Art geht es weiter, eine ganze Zeitungsseite lang. Wie es scheint, hat Sönke Iwersen seine Expeditionen in die Simulationswelt bloß simuliert, und seine journalistische Bilanz fällt reichlich mager aus.

Edward Castronova hat der Wirtschaftswissenschaft in den Simulationsspielen ein neues Betätigungsfeld erschlossen. Der virtuelle Journalismus, in allen seinen Facetten, ist ein Gebiet, das ebenfalls genaue Aufmerksamkeit verdient.

Ränken und Würken

Heute vor 250 Jahren wurde der Anstandsberater Adolph von Knigge geboren. Von Reinhard Markner

Junge Welt, 16. 10. 2002

»Der höchste Grad der Aufklärung gränzt immer an die äusserste Barbarey.« – Adorno? Nein, Knigge (in einem Brief, 1780). Ein zufälliger Gleichklang? Nicht unbedingt; schließlich war der stets vollendet formbewußte Adorno wie kein anderer Salonsozialist bereit, im Anstand den Widerschein der Humanität schlechthin zu erkennen. In den Minima moralia unternahm er es gar, die »genaue historische Stunde« des Taktes zu bestimmen. Sie habe geschlagen, als »das bürgerliche Individuum des absolutistischen Zwangs ledig ward« und »die in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention« eine neue Bedeutung gewann.

Das also war die Stunde des heute vor 250 Jahren auf einem Gut bei Hannover geborenen Freiherrn Adolph von Knigge. Als er 1788 seinen Ratgeber Über den Umgang mit Menschen für die Anständigen unter denselben schrieb, braute sich in Paris schon der Aufstand zusammen. Der verarmte Adlige zählte zu den Wegbereitern des bürgerlichen Zeitalters – und zu den standhafteren unter den deutschen Anhängern der Französischen Revolution.

Es hat sich herumgesprochen, daß es Knigge nicht darum zu tun war, die Manieren der Deutschen zu verfeinern. »Daß man bey Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen solle« – mit derlei Empfehlungen mochte er sich nicht aufhalten. Er betonte das so ausdrücklich, als ahnte er schon das kommende Mißverständnis, das von seinem Namen Besitz ergreifen sollte. Knigge ging es um angewandte Menschenkenntnis. Er lehrte nicht die leere Zeremonialität der französischen Courtoisie, sondern gelassene Weltklugheit.

Als Romancier fehlte Knigge die Kraft eines Smollett und schon gar der Aber-Witz eines Sterne. Immerhin erwies er sich auch in diesem Genre als ein aufmerksamer Beobachter seiner Zeit – und natürlich seiner selbst, lag doch nicht nur dem Erstling »Roman meines Lebens« eingestandenermaßen ein autobiographisches Substrat zugrunde.

Weniger augenfällig geriet Knigge das Selbstporträt im Umgang mit Menschen. Man entdeckt es an der Stelle, wo vor Leuten gewarnt wird, die zwanghaft »Ränke, Schwänke und Winkelzüge« betreiben. »Ein Mann«, so heißt es hier, »der lange an Höfen gelebt hat, um sich her nichts als Verstellung, Intrigue, Cabale und Gegeneinanderwürken ..., findet ein Leben, das ohne Verwicklung fortgeht, zu einförmig; er wird seine unbedeutendsten Schritte so thun, daß man ihm nicht nachspüren kann, und seinen unschuldigsten Handlungen einen räthselhaften Anschein geben.« Wie genau sich Knigge in dieser Darstellung getroffen hat, ist erst durch die Wiederentdeckung von Teilen seiner weitläufigen Korrespondenz in freimaurerischen Archiven erkennbar geworden.

Schon als Student in Göttingen Mitglied des »Concordienordens«, hatte Knigge 1773 Aufnahme in eine Kasseler Freimaurerloge gefunden. Nach einer zwischenzeitlichen Annäherung an rosenkreuzerische Kreise trat er 1780 dem aufklärerischen »Illuminatenorden« bei. Der Mann, der ihn anwarb, war sich zunächst noch sicher, daß er »wahrlich ein herlicher, und kluger Mann« sei. Doch nur zwei Monate später sah er sich veranlaßt, vor Knigge zu warnen: »Er ist ein Hofmann gewesen, und folglich in Ränken und Schwenken belehrt.« Mit anderen Worten, sein Charakter gleiche dem »von einem feinen Politiquer«.

Diese Warnung blieb zunächst ohne Wirkung; Knigge stieg rasch in der Hierarchie der Illuminaten auf und beförderte maßgeblich deren Ausbreitung über Bayern hinaus. Aber sein intrigantes Wirken war von ständigen Querelen begleitet, und schließlich überwarf er sich auch unwiderruflich mit dem Ordensgründer, dem Ingolstädter Juraprofessor Adam Weishaupt, so daß er 1784 seinen Austritt erklären mußte. Es wiederholte sich im Untergrund der Gesellschaft des Ancien Régime, was Knigge zuvor bereits an dessen Oberfläche widerfahren war, als er vergeblich um Anstellungen in Weimar und Berlin nachsuchte.

Der Roman seines Lebens war auf allen Ebenen die Geschichte von Ambitionen, die an Grenzen stoßen, auch wenn Knigge schließlich – eine Art erpreßter Versöhnung – in Bremen ein standesgemäßes Amt übertragen bekam und 1796 im dortigen Dom ein ehrenwertes Begräbnis. Als chronisch Kranker durchlitt er den Desillusionsroman seines irdischen Daseins. Wenigstens gelangte er dabei zu Einsichten, die aufgeklärt waren, ohne barbarisch zu sein.

Brüchig

Eine Weimarer Ausstellung zeigt die Freimaurer bei der Arbeit am nationalen Gedächtnis. Von Reinhard Markner

Junge Welt, 30. 9. 2002

Im Vorfeld der letzten französischen Präsidentschaftswahlen widmeten die beiden Pariser Nachrichtenmagazine Express und Nouvel Observateur Titelgeschichten der Freimaurerei und ihrem mutmaßlichen Einfluß auf die große Politik. Möglicherweise trugen sie damit ihr Scherflein zum Erfolg des Rechtsextremisten Le Pen bei, dessen Partei unter anderem in der Tradition einer Gegnerschaft zum Freimaurertum (des Antimasonismus) wurzelt. Sicher jedenfalls wäre ein ähnlicher Vorgang hierzulande kaum denkbar. Die letzten bekannteren Maurer in der deutschen Politik waren die Liberalen Gustav Stresemann und Thomas Dehler. Das ist lange her, und so schwelgen die Freimaurer gerne in der Erinnerung an jene goldenen Zeiten, da ihr Bund erhebliche gesellschaftliche Bedeutung besaß.

An diesem Punkt setzt die Ausstellung »Geheime Gesellschaft« an, die noch bis Jahresende täglich außer dienstags im Schiller-Museum in Weimar zu sehen ist. Die Tatsache, daß viele der Protagonisten des klassischen Weimar Maurer waren, hatte von jeher, wie sich leicht denken läßt, Bedeutung nicht nur für das Geschichtsbild der ortsansässigen Loge »Amalia«. Die Mitgliedschaft der Klassiker verbürgte die Verankerung der Freimaurerei in den besten Traditionen Deutschlands; allenfalls Mozarts »Zauberflöte« und Lessings Dialog »Ernst und Falk« waren und sind den Maurern heiliger.

Die freimaurerische Geschichte, lange die Geschichte eines Männerbundes mit humanitärer Geisteshaltung, ist zu schön, um wahr zu sein. Der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson erinnerte vor gut zehn Jahren daran, daß die Weimarer Loge nach 1782 für geraume Zeit geschlossen blieb, und präsentierte dafür auch eine Erklärung: Herzog Carl August und Goethe seien der Loge – und kurz darauf auch dem paramasonischen Geheimbund der Illuminaten – nur beigetreten, um deren Aktivitäten um so besser überwachen zu können. Von der Kontroverse um diese These sollen die Besucher der Weimarer Ausstellung nichts und die Leser des üppigen Katalogs (Hanser, 29,90 Euro) so wenig wie möglich erfahren. Das ist bedauerlich, denn es müßte heute möglich sein, Geschichte auch dem breiten Publikum nicht nur als ein So-war-es-und-nicht-anders zu präsentieren.

Ansatzweise immerhin kann man erkennen, daß die Entstehung der »symbolischen Maurerei« von den Weimarer Kuratoren aus hermetischen Traditionen abgeleitet wird. Für die sozialgeschichtliche Deutung, die in den Logen vornehmlich Orte der freien Aussprache zwischen Adel und Bürgertum sah, haben sie nicht mehr viel übrig. Als Ergebnis ihrer Bemühungen kann man nun eine Paradigmenwechselausstellung besichtigen.

Konstanter als die Geschichtskonstruktionen der neueren Historiographie ist, zumindest auf den ersten Blick, die Traditionsbildung der Freimaurer. Goethe selbst nahm 1813 in einer »Trauerloge« von Wieland Abschied und begründete so den Brauch der wiederbelebten »Bauhütte Amalia«, der in den »ewigen Osten« eingegangenen Brüder festlich zu gedenken. Die Ausstellung führt vor, wie sich die Weimarer Freimaurer im 19. Jahrhundert durch beharrliche »Arbeit am nationalen Gedächtnis« einen Logenplatz im Theater der bürgerlichen Eitelkeiten erkämpften. Sie stellt bloß, wie sich die Maurer darin verausgabten, die Klassiker zu vereinnahmen und schließlich die eigenen kosmopolitischen Ideale an den Zeitgeist der nationalen Überhebung verrieten.

Schiller distanzierte sich entschieden von dem maurerischen Treiben seiner Umgebung in Stuttgart, Mannheim und Weimar. Der Genius loci seines Hauses scheint die Ausstellungsmacher zu ihrer erfrischend ungeschönten Darstellung inspiriert zu haben. Entgangen ist ihnen allerdings, daß die deutsche Freimaurerei kaum noch die nötige Fallhöhe für eine ideologiekritische Betrachtung hat. Es fällt schwer, eine Institution zu entlarven, die sich heutzutage Mühe geben muß, ob ihrer altertümlichen Bräuche nicht belächelt zu werden.

Eines der letzten Exponate der Weimarer Ausstellung ist ein vergilbtes Spiegel-Heft. Es zeigt Theodor Vogel, der sich in der Nachkriegszeit um die Einigung der bundesdeutschen Logensysteme bemühte, und stammt aus dem Jahre 1963. So lange ist es her, daß die Freimaurerei in Deutschland Stoff für eine Titelgeschichte war. Heute ist sie nur noch Beute für kritische Historiker.

* »Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei.« Schiller-Museum, Weimar, bis 31.12. Bis 31.10. täglich von 9 bis 18 Uhr, ab 1.11. täglich von 9 bis 16 Uhr, dienstags geschlossen. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 3 Euro)

Und Sie so?

Orthographie-Opfer unter sich: Deutschsprachige Zeitungen und die neue deutsche Rechtschreibung. Von Reinhard Markner

Junge Welt, 1. 8. 2001

Wenn Zeitungen eigene Fehler einzugestehen haben, so tun sie dies gewöhnlich schamhaft und leise in jenen dunklen Ecken, die der Umbruch übriggelassen hat. Nicht so vor einem Jahr, als die Frankfurter Allgemeine mit Aufmachern in eigener Sache überraschte. Nach einem Jahr gemeinsamer Quälerei von Autoren und Lesern hatte das Blatt ein Einsehen und kündigte die Rückkehr zur bewährten deutschen Rechtschreibung an. Ein Aufatmen ging durch die Leserschaft.

Aus den Kommentaren der Kollegen sprach das schlechte Gewissen. Ein Autor der Süddeutschen Zeitung riet jenen Schriftstellern, die der FAZ gratulierten, sich lieber mit dem Rechtsextremismus zu beschäftigen. »Freie Rechtschreibung für freie Bürger - die wäre die schlechteste aller Varianten«, schrieb die Neue Osnabrücker Zeitung, offenbar schockiert von dem Gedanken, die vom Deutschen Bundestag ausgegebene Losung »Die Sprache gehört dem Volk« könnte Wirklichkeit werden. Und der Chefredakteur der Nürnberger Zeitung ließ sich zu der vielleicht etwas übertriebenen Schätzung hinreißen, daß 95 Prozent seiner Leser die seit August 1999 zur Anwendung kommende Schreibung ablehnten. An eine Änderung, so beeilte er sich hinzuzufügen, sei gleichwohl nicht zu denken.

Applaus spendete ausgerechnet die Wiener Neue Kronen- Zeitung vom anderen Ende des Qualitätsspektrums, doch auch hier fehlte der Mut, den Worten Taten folgen zu lassen. Ein Telefonat zwischen den wenig reformbegeisterten Chefredakteuren von Welt und Spiegel blieb ohne Ergebnis. Die FAZ fand keine Nachahmer. Es rächte sich nun, daß man ein Jahr zuvor selbst dem Konformismus gehuldigt hatte und sich ganz ausdrücklich wider besseren Wissens den Anordnungen der deutschen Unterrichtsminister gebeugt hatte. Hätte man die Entscheidung der Frankfurter Kollegen vorausgeahnt, wären die eigenen, quälend langwierigen Bemühungen um eine Hausorthographie wohl eingestellt worden, mutmaßte ein Mitarbeiter der NZZ. Nun aber war die Entscheidung für »Potenzial«, aber gegen »Gräuel« unwiderruflich.

Dabei wäre ein »Gesichtsverlust« der Redaktionen nicht wirklich zu befürchten gewesen; es hätte gereicht, die Masken abzureißen. Vor einigen Wochen erschien in der Süddeutschen Zeitung an der denkbar prominentesten Stelle, in der Wochenendausgabe auf Seite drei, ein in ebenso auffällig makelloser wie herkömmlicher Rechtschreibung abgefaßter Artikel. Es war dies eines jener mehr oder minder alltägliche Versehen, die von der Presse nicht einmal einer Richtigstellung für nötig befunden werden. Man hatte vergessen, den Text durch jenen »Konverter« laufen zu lassen, der aus Orthographie »Orthografie« macht.

Solche Pannen sollten niemanden überraschen. Von den Betreibern der Reform wurde eine vereinfachte und vereinheitlichte Rechtschreibung in Aussicht gestellt. Tatsächlich ist das entstandene Durcheinander für jedermann sichtbar und das amtliche Regelwerk so kompliziert, daß seine Auslegung selbst die Fachleute der Duden-Redaktion überfordert. Ihre Entscheidung, die Getrenntschreibung »wieder sehen« vorzuschreiben, angeblich eine Fehlinterpretation der neuen Regeln, ist mittlerweile zwar revidiert, immer noch aber stehen in der Neuausgabe des Wörterbuchs, die wenige Wochen nach dem Befreiungsschlag der FAZ auf den Markt kam, »wieder herrichten« und »wiederherstellen« unvermittelt nebeneinander. Kein Wunder, daß der Münchner Lektor Wolfgang Wrase bei einem akribischen Vergleich von zwei Ausgaben der Süddeutschen einen Anstieg der Fehlerzahlen um ein Mehrfaches diagnostizieren mußte. Und dies, obwohl die deutschsprachige Presse es abgelehnt hat, die amtlichen Regeln in toto zu übernehmen.

Die von den deutschen Kultusministern bestallten Linguisten schicken sich nun an, hinter den wie gewohnt geschlossenen Türen die Reform der Reform vorzubereiten. Einige Ergebnisse ihrer Überlegungen sind im jüngst erschienenen Duden-Universalwörterbuch bereits zu besichtigen. So sind die grammatisch falschen Schreibweisen »heute Abend«, »gestern Morgen« usw. nicht etwa korrigiert, sondern sogar noch um die gewagten Konstruktionen »heute Früh«, »morgen Früh« usw. ergänzt worden. Diese sind zwar so wenig sinnvoll wie amtlich, dafür aber bezeichnend für die Geisteshaltung ihrer Urheber. Wenn Hubert Spiegel, der leitende Literaturredakteur der FAZ, sich dieser Tage mit den Worten vernehmen läßt, die Rechtschreibreform sei im abgelaufenen Jahr nicht besser geworden, weiß er vielleicht gar nicht, wie recht er hat.

(Die junge Welt lesen Sie übrigens wie schon immer in der bewährten deutschen Rechtschreibung.)