23 Januar 2009

Ein Tropfen genügt

Gekürzt erschienen in F.A.S., 9. 11. 2008

Der erste dunkelhäutige Präsident der Vereinigten Staaten ist das Kind einer weißen Mutter. Seinen kenianischen Vater hat er kaum jemals gesehen, den größten Teil seiner Jugend verbrachte er bei den weißen Großeltern. Wieso gilt er trotzdem schlichtweg als »schwarz«? Die Beantwortung dieser simplen Frage führt mitten hinein in die Abgründe der einstigen amerikanischen Rassengesetzgebung und die Paradoxien der heutigen Identitätspolitik.

Barack Obama als Schwarzen anzusehen heißt zunächst, seine eigene Selbstbestimmung zu respektieren. Obama hat sich bereits in seiner Autobiographie Dreams from my father ausführlich über seine Herkunft und den Umgang mit ihr geäußert. Mit zwölf oder dreizehn Jahren, berichtet er hier, habe er aufgehört, Fremden gegenüber von der Hautfarbe seiner Mutter zu sprechen, weil ihm dies als Anbiederung an die Weißen erschien. Seitdem sei er immer wieder Zeuge geworden, wie verstörend es auf weiße wie schwarze Amerikaner wirke zu erfahren, einen Menschen uneindeutiger Rasse vor sich zu haben: »Sie wissen nicht mehr, wer ich bin. Insgeheim stellen sie sich vielleicht meine Zerrissenheit vor, das gemischte Blut, das gespenstische Bild des tragischen Mulatten, der in zwei Welten gefangen ist.«

Obamas Rückblick auf das Leben eines noch jungen Mannes, der seit kurzem auch in deutscher Übersetzung vorliegt, erschien 1995, noch vor Beginn seiner politischen Karriere. Inzwischen ist die Genealogie des Verfassers längst kein Geheimnis mehr. Der Politiker Obama hat seither stets seine Absicht bekundet, zur Überwindung von Rassenschranken beizutragen, sich aber gleichzeitig vorbehaltlos zur schwarzen Gemeinschaft bekannt. Er hat damit auf die noch immer unausweichliche Frage nach seiner Rassenzugehörigkeit diejenige Antwort gegeben, welche die amerikanische Gesellschaft und der ganz überwiegende Teil seiner Wähler von ihm erwartet. Es besteht zwar keine Veranlassung, an Obamas Aufrichtigkeit zu zweifeln. Ein Bestehen auf der eigenen hybriden Identität aber, soviel ist sicher, wäre unter den Amerikanern weithin auf Unverständnis gestoßen.

»Wie wird in den Vereinigten Staaten eine Person, gesellschaftlich wie rechtlich, als schwarz definiert? Was sind unsere diesbezüglichen Regeln, und wie sind sie entstanden?« Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Soziologe F. James Davis, Emeritus an einer Universität in Obamas heutiger Heimat Illinois, in seinem erstmals 1991 veröffentlichten Überblick Who is black? One nation’s definition.

Davis kommt das Verdienst zu, den Blick der Amerikaner auf die Eigentümlichkeiten ihres Umgangs mit dieser für sie bis heute relevanten Klassifizierung gelenkt zu haben. Keine andere Nation hat in ähnlicher Konsequenz versucht, zwischen Schwarzen und Weißen zu scheiden, ohne dabei einen Übergangsbereich anzuerkennen. Schon Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollzog sich in der unmittelbaren Nachbarschaft, auf der Karibikinsel Hispaniola, eine gänzlich andere Entwicklung. Hier kam es in den Wirren der Haitianischen Revolution zu Allianzen zwischen den weißen Siedlern und den Mulatten, die sich gemeinsam den aufständischen schwarzen Sklaven wie auch den Truppen der französischen Kolonialmacht entgegenstellten.

Während in der Karibik die gens de couleur erfolgreich für ihre eigenen Rechte kämpften, blieben sie in den amerikanischen Südstaaten, mit Ausnahme der Gegenden um New Orleans und Charleston, den Sklaven gleichgestellt. Soweit sie dennoch eine Elite bildeten, machten sie sich zwangsläufig zu Sprechern für die farbige Bevölkerung insgesamt. Diese Konstellation erfuhr auch durch den Sieg der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg keine grundlegende Änderung. Im Gegenteil wurde 1896 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts die Gleichbehandlung aller, auch der hellsten Dunkelhäutigen ausdrücklich bekräftigt: Die Richter wiesen die Klage des Schusters Homer Plessy ab, der sein Recht hatte erstreiten wollen, in einem den Weißen vorbehaltenen Eisenbahnabteil befördert zu werden. Die Abkunft von bloß einer schwarzen Urgroßmutter genügte, Plessy als Schwarzen zu klassifizieren.

In der Folge erließen zahlreiche Südstaaten zur Erhaltung der rassischen Reinheit Gesetze, mit denen die sogenannte One-drop rule festgeschrieben wurde, so benannt nach dem »schwarzen Blut« und seiner homöopathischen Verdünnung. Indem dieses rigoros nur zwischen Weißen und Nichtweißen unterscheidende binäre System auch auf alle anderen Bevölkerungsgruppen angewandt wurde, betraf es in Staaten wie Virginia zugleich die indianischen Ethnien, was deren Benachteiligung weiter verschärfte.

Die endliche Aufhebung der Rassengesetzgebung in den sechziger Jahren bedeutete nicht zugleich das Ende der Eintropfenregel. Prominente Sprecher der Bürgerrechtsbewegung, von W. E. B. Du Bois bis Martin Luther King, hatten selbst Weiße unter ihren unmittelbaren Vorfahren; ihr Kampf für die Gleichberechtigung galt allen Dunkelhäutigen. In dem Maße aber, wie er in das System der ausgleichenden Bevorteilung mündete, bekräftigte er die Notwendigkeit, an der überkommenen kategorialen Unterscheidung zwischen den »Rassen« festzuhalten.

Im Nachwort zur zehnten Auflage seines zur klassischen Seminarlektüre gewordenen Versuchs hat sich F. James Davis beifällig über das Multi-racial movement geäußert, das gegen den Widerstand der Lobbyisten der Affirmative action die Einführung eines neuen Kästchens auf den Bögen der bundesstaatlichen Zensusbehörde durchsetzen konnte. Er resümierte: »Das Ende der Eintropfenregel wird erleichtert werden, wenn das ihr zugrunde liegende gesellschaftliche Konstrukt – Rasse selbst – an Bedeutung verliert.«