Muß dass sein?
In Schulen und Behörden von 14 Bundesländern gelten ab heute neue Rechtschreibregeln. Was bleibt von der Reform? Von Reinhard Markner
Junge Welt, 1. 8. 2005
»Wenn Bild nicht mitmacht, haben wir keine Chance«, gestand Gerhard Augst dem Spiegel. »Wir«, das sind die Rechtschreibreformer. Augst, emeritierter Sprachwissenschaftler an der Universität Siegen, war lange Zeit ihr Anführer.
Bild macht nicht mehr mit. Trotzdem ist die Reform nicht chancenlos. Viele Menschen schreiben, weil es von ihnen erwartet wird, »dass«. Als Faustregel gilt: Reformiert schreibt, wer »dass« schreibt. Gelänge es den Reformern und ihren Verbündeten in den Ministerien, die partielle Ersetzung des »ß« durch »ss« zur allgemein akzeptierten Norm zu machen, hätten sie ihr einzig verbliebenes Ziel erreicht.
Rechtschreibreformen zielen gewöhnlich nur auf die Anpassung der Schreibung an die Lautung. Die deutsche Rechtschreibung ist recht lautgetreu. Ihre Gegner aber wollten eine noch »flachere« Schreibung, wie sie z. B. das Finnische hat. Mehrere Anläufe in diese Richtung scheiterten, u. a. 1944 und 1954.
Von den weitreichenden Ambitionen früherer Reformergenerationen (»fi« statt »Vieh«) rückte die seit den 70er Jahren aktive Gruppe um Augst schrittweise ab. Sie verlegte sich darauf, den zuständigen Beamten eine unüberschaubare Zahl kleinerer Modifikationen (»Föhn« statt »Fön«) einzureden, mit dem Hinweis, dieses Vorgehen sei behutsam und unbedingt notwendig. Augst selbst entdeckte immer neue alte Wörter, deren Gestalt dringend per Erlaß zu ändern seien: Château, Frevel, Kolophonium, verbleuen.
In einigen Fällen drang er mit seinen Eingaben durch. Aber »Chateau, Frefel, Kolofonium, verbläuen« und andere Raritäten dieser Art wären von Bertelsmann kaum als »neue Rechtschreibung« zu vermarkten gewesen. Zum Glück hatte man noch das »dass«.
Die neue »ss«/»ß«-Schreibung steigert die Lauttreue. Neu ist sie allerdings nicht; die zugehörigen Regeln wurden in den 1820er Jahren entwickelt. Der Grammatiker August Heyse (1764–1829) argumentierte, die Verwendung des »ß« am Silbenende sei »mißbräuchlich«. Dabei bezog er sich in erster Linie noch auf den Schreibgebrauch in den gebrochenen Schriften (gebrochen sind die Bögen – d. Red.). Für den Fraktursatz seiner Grammatik ließ Heyse ein eigenes Zeichen gießen, eine Ligatur (Buchstabenverbindung) aus langem und rundem »s«. Dieses Zeichen übernahm die wichtigste Funktion des »ß«, die Bezeichnung des Silbenschlusses. Es kam in Wörtern wie »Haß« zur Anwendung. Mit zwei langen »s« ersetzte Heyse das »ß« vor »t« (»hasst« statt »haßt«).
In der Antiqua (hier sind die Bögen rund – d. Red.) ist das lange »s« schon lange ungebräuchlich. Es überlebt nur im »ß«, das anders gebildet ist als das Fraktur-»ß«. Letzteres ist aus einem langen »s« und einem epigraphischen Kürzel entstanden. Das Antiqua-«ß« hingegen ist eine Verbindung aus langem und rundem »s«, ganz wie das von Heyse entworfene Zeichen.
Ein Verzicht auf diese Ligatur hat Leseerschwernisse zur Folge, weil die Wortfugen verschleiert werden: »bisschen«, »Flussaue«, »Messergebnis«. Ferner kommt es zu ästhetisch unbefriedigenden, mühsam lesbaren Wortgebilden mit dreifachem »s«: »Missstand«, »Schlusssatz«.
Diese Mängel der Heyseschen Schreibung sind nicht unbedeutend. Im Vergleich mit den eklatantesten Mißgriffen der Reformer, insbesondere der forcierten Getrenntschreibung und den grammatisch falschen Großschreibungen, jedoch sind sie nachrangig. Daher hat sich die Kritik an der Reform nicht auf die »ss«/»ß«-Schreibung konzentriert.
Die Heysesche Regel ist Erwachsenen relativ leicht zu vermitteln. Dennoch beobachtet man eine hohe Fehlerquote: »Grüsse«, »Heissluft«, »Strasse«. Offensichtlich verstehen viele nicht, wann das »ß« bleiben soll. Es fällt ihnen schwer, die Vokallänge zu messen, zumal diese regional schwankend ist. Vor Übergeneralisierungen warnt der aktuelle Duden bereits ausdrücklich: »Feminine Substantive auf -nis werden im Singular mit nur einem -s geschrieben«, heißt es in einem »Infokasten« unter dem Lemma »Kenntnis«.
Für Schüler, aber auch für schreibunsichere Erwachsene ist die grammatische Unterscheidung zwischen »daß« und »das« die größte orthographische Schwierigkeit. Durch die Ersetzung von »daß« durch »dass« kann sich daran nichts ändern. Im Gegenteil. In einem Interview mit dem Leipziger Erziehungswissenschaftler Professor Harald Marx, das die Neue Osnabrücker Zeitung vor knapp einem Jahr veröffentlichte, hieß es: »Also mich ärgert es schon, wenn die Kultusminister sagen, das (!) jetzt an den Schulen besser rechtgeschrieben wird.« Die Verwechslung von »das« mit »dass« und umgekehrt ist optisch unauffälliger als die von »das« mit »daß«. Sie begegnet uns jetzt häufiger als je zuvor.
Marx ist der einzige Wissenschaftler, der seriöse Studien zu den Rechtschreibleistungen der Schüler vor und nach der Reform angestellt hat. Dabei konzentrierte er sich von Anfang an auf die »ss«/»ß«-Schreibung. 1998 stellte er fest, daß mehr Fehler gemacht wurden als 1996. Später ging ihre Zahl wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück. Die Neigung zu Übergeneralisierungen wuchs hingegen stetig: »Das heißt, Wörter, die in der s-Laut-Schreibung von der Rechtschreibreform nicht betroffen waren, wurden jetzt häufiger als vor der Reform falsch geschrieben . . . Es gibt seit der Reform fast keine Examensarbeit meiner Lehramts- und Magisterstudenten, in der das ›ss‹ oder ›ß‹ nicht wenigstens einmal falsch geschrieben ist«, resümierte Marx in dem oben angeführten Interview.
Der Rückgriff auf die Heysesche »ss«/»ß«-Regel hat die Orthographie nicht vereinfacht, aber sichtbar verändert. Das ist entscheidend. Auch wenn es nur bei diesem einen Eingriff bliebe, hätten die Reformer ihr letztes Ziel erreicht: die Möglichkeit einer staatlich organisierten Veränderung der deutschen Sprache überhaupt vorgeführt zu haben.
Junge Welt, 1. 8. 2005
»Wenn Bild nicht mitmacht, haben wir keine Chance«, gestand Gerhard Augst dem Spiegel. »Wir«, das sind die Rechtschreibreformer. Augst, emeritierter Sprachwissenschaftler an der Universität Siegen, war lange Zeit ihr Anführer.
Bild macht nicht mehr mit. Trotzdem ist die Reform nicht chancenlos. Viele Menschen schreiben, weil es von ihnen erwartet wird, »dass«. Als Faustregel gilt: Reformiert schreibt, wer »dass« schreibt. Gelänge es den Reformern und ihren Verbündeten in den Ministerien, die partielle Ersetzung des »ß« durch »ss« zur allgemein akzeptierten Norm zu machen, hätten sie ihr einzig verbliebenes Ziel erreicht.
Rechtschreibreformen zielen gewöhnlich nur auf die Anpassung der Schreibung an die Lautung. Die deutsche Rechtschreibung ist recht lautgetreu. Ihre Gegner aber wollten eine noch »flachere« Schreibung, wie sie z. B. das Finnische hat. Mehrere Anläufe in diese Richtung scheiterten, u. a. 1944 und 1954.
Von den weitreichenden Ambitionen früherer Reformergenerationen (»fi« statt »Vieh«) rückte die seit den 70er Jahren aktive Gruppe um Augst schrittweise ab. Sie verlegte sich darauf, den zuständigen Beamten eine unüberschaubare Zahl kleinerer Modifikationen (»Föhn« statt »Fön«) einzureden, mit dem Hinweis, dieses Vorgehen sei behutsam und unbedingt notwendig. Augst selbst entdeckte immer neue alte Wörter, deren Gestalt dringend per Erlaß zu ändern seien: Château, Frevel, Kolophonium, verbleuen.
In einigen Fällen drang er mit seinen Eingaben durch. Aber »Chateau, Frefel, Kolofonium, verbläuen« und andere Raritäten dieser Art wären von Bertelsmann kaum als »neue Rechtschreibung« zu vermarkten gewesen. Zum Glück hatte man noch das »dass«.
Die neue »ss«/»ß«-Schreibung steigert die Lauttreue. Neu ist sie allerdings nicht; die zugehörigen Regeln wurden in den 1820er Jahren entwickelt. Der Grammatiker August Heyse (1764–1829) argumentierte, die Verwendung des »ß« am Silbenende sei »mißbräuchlich«. Dabei bezog er sich in erster Linie noch auf den Schreibgebrauch in den gebrochenen Schriften (gebrochen sind die Bögen – d. Red.). Für den Fraktursatz seiner Grammatik ließ Heyse ein eigenes Zeichen gießen, eine Ligatur (Buchstabenverbindung) aus langem und rundem »s«. Dieses Zeichen übernahm die wichtigste Funktion des »ß«, die Bezeichnung des Silbenschlusses. Es kam in Wörtern wie »Haß« zur Anwendung. Mit zwei langen »s« ersetzte Heyse das »ß« vor »t« (»hasst« statt »haßt«).
In der Antiqua (hier sind die Bögen rund – d. Red.) ist das lange »s« schon lange ungebräuchlich. Es überlebt nur im »ß«, das anders gebildet ist als das Fraktur-»ß«. Letzteres ist aus einem langen »s« und einem epigraphischen Kürzel entstanden. Das Antiqua-«ß« hingegen ist eine Verbindung aus langem und rundem »s«, ganz wie das von Heyse entworfene Zeichen.
Ein Verzicht auf diese Ligatur hat Leseerschwernisse zur Folge, weil die Wortfugen verschleiert werden: »bisschen«, »Flussaue«, »Messergebnis«. Ferner kommt es zu ästhetisch unbefriedigenden, mühsam lesbaren Wortgebilden mit dreifachem »s«: »Missstand«, »Schlusssatz«.
Diese Mängel der Heyseschen Schreibung sind nicht unbedeutend. Im Vergleich mit den eklatantesten Mißgriffen der Reformer, insbesondere der forcierten Getrenntschreibung und den grammatisch falschen Großschreibungen, jedoch sind sie nachrangig. Daher hat sich die Kritik an der Reform nicht auf die »ss«/»ß«-Schreibung konzentriert.
Die Heysesche Regel ist Erwachsenen relativ leicht zu vermitteln. Dennoch beobachtet man eine hohe Fehlerquote: »Grüsse«, »Heissluft«, »Strasse«. Offensichtlich verstehen viele nicht, wann das »ß« bleiben soll. Es fällt ihnen schwer, die Vokallänge zu messen, zumal diese regional schwankend ist. Vor Übergeneralisierungen warnt der aktuelle Duden bereits ausdrücklich: »Feminine Substantive auf -nis werden im Singular mit nur einem -s geschrieben«, heißt es in einem »Infokasten« unter dem Lemma »Kenntnis«.
Für Schüler, aber auch für schreibunsichere Erwachsene ist die grammatische Unterscheidung zwischen »daß« und »das« die größte orthographische Schwierigkeit. Durch die Ersetzung von »daß« durch »dass« kann sich daran nichts ändern. Im Gegenteil. In einem Interview mit dem Leipziger Erziehungswissenschaftler Professor Harald Marx, das die Neue Osnabrücker Zeitung vor knapp einem Jahr veröffentlichte, hieß es: »Also mich ärgert es schon, wenn die Kultusminister sagen, das (!) jetzt an den Schulen besser rechtgeschrieben wird.« Die Verwechslung von »das« mit »dass« und umgekehrt ist optisch unauffälliger als die von »das« mit »daß«. Sie begegnet uns jetzt häufiger als je zuvor.
Marx ist der einzige Wissenschaftler, der seriöse Studien zu den Rechtschreibleistungen der Schüler vor und nach der Reform angestellt hat. Dabei konzentrierte er sich von Anfang an auf die »ss«/»ß«-Schreibung. 1998 stellte er fest, daß mehr Fehler gemacht wurden als 1996. Später ging ihre Zahl wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück. Die Neigung zu Übergeneralisierungen wuchs hingegen stetig: »Das heißt, Wörter, die in der s-Laut-Schreibung von der Rechtschreibreform nicht betroffen waren, wurden jetzt häufiger als vor der Reform falsch geschrieben . . . Es gibt seit der Reform fast keine Examensarbeit meiner Lehramts- und Magisterstudenten, in der das ›ss‹ oder ›ß‹ nicht wenigstens einmal falsch geschrieben ist«, resümierte Marx in dem oben angeführten Interview.
Der Rückgriff auf die Heysesche »ss«/»ß«-Regel hat die Orthographie nicht vereinfacht, aber sichtbar verändert. Das ist entscheidend. Auch wenn es nur bei diesem einen Eingriff bliebe, hätten die Reformer ihr letztes Ziel erreicht: die Möglichkeit einer staatlich organisierten Veränderung der deutschen Sprache überhaupt vorgeführt zu haben.
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